Theologische Gedanken zur "Ehe für alle"

von Renato Pfeffer

Die EVP Schweiz hat für die Meinungsfindung zur Abstimmung "Ehe für alle" zwei theologische Texte - einen pro und einen kontra - in Auftrag gegeben. Den Text, der für eine Öffnung der Ehe spricht, durfte ich verfassen. Es würde mich freuen, wenn ich Sie in Ihrem Meinungsfindungsprozess begleiten darf.

Ihr Renato Pfeffer

Den Text als Dokument finden Sie hier.

Ehe und Ehe für alle in der Bibel

1. Kurzüberblick

In christlichen Kreisen wird die Bibel oft auch für gesellschaftspolitische Fragen konsultiert. Zum Thema Ehe für alle scheint sich dabei eine klare Vorstellung herausgebildet zu haben, was richtiger, biblischer Glaube, und was liberaler, vom Zeitgeist beeinflusster Glaube sei. Auf den kommenden Seiten möchte ich diesen Bruch überbrücken und zeigen, dass man durchaus auch mit konservativer Überzeugung durch theologisch fundierte Argumentation aus der Bibel eine liberale Ethik ableiten kann.

Das Thema Ehe und Ehe für alle kann man nicht allein mit den vermeintlichen fünf Bibelstellen zu Homosexualität abhandeln. Darum gehe ich in einem ersten Teil zunächst darauf ein, was die Ehe gemäss der Bibel überhaupt ist, und was sie nicht ist. In einem zweiten Teil werden die fünf Bibelstellen angeschaut, die vermeintlich Homosexualität verbieten. In einem letzten Punkt wird dargestellt, dass die Bibel gerade nichts zu homosexueller Orientierung und Partnerschaft sagt. Vielmehr sind wir bei dieser politischen Frage selbst herausgefordert, im Sinne des Liebesgebotes das Beste für die Gesellschaft zu suchen.

2. Ehe in der Bibel

Die Gegner der Ehe für alle aus christlichen Kreisen weisen inzwischen immer seltener auf die Bibelstellen hin, die homosexuelle Handlungen angeblich verbieten. Stattdessen weichen sie öfter darauf aus, die Ehe als „Schöpfungsordnung“ zu proklamieren und damit homosexuelle Handlungen als widergöttlich zu überführen. Das Hauptaugenmerk liegt in der Darstellung der Ehe als Sakrament, als gottgewollte, gesegnete und gebotene Gemeinschaft. Der Mensch sei geschaffen als Mann und Frau – die sich in ihren Eigenschaften jeweils ergänzen und durch die Zeugung von Kindern etwas Neues schaffen würden. Zudem ist die Ehe ein Abbild der Beziehung zwischen Jesus Christus als Bräutigam und der Gemeinde als Braut.

Vorweg ist der Umgang mit den biblischen Texten zu klären. Es gilt in der Bibel zu unterscheiden, was Gesetze und was Geschichten sind. Aus Geschichten kann und darf man keine göttlichen Gesetze ableiten. Und wenn Gesetze aus dem Alten Testament übernommen werden, müssen diese zudem im Licht des Neuen Testaments reflektiert werden. Ein Grundsatz in der Bibelauslegung ist es zu fragen, was der Autor damals sagen wollte, und nicht, was ich heute daraus herauslesen will.

Die Schöpfungsgeschichte berichtet vom ersten Menschenpaar Adam und Eva und beschreibt daraus folgend, dass ein Mann darum seinen Vater und seine Mutter verlässt und sich eng mit einer Frau verbindet, auf dass die beiden eins werden.[1] Mit dieser und den vorangehenden Bibelstellen wurde in der Vergangenheit schon so manches begründet, etwa die Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann, das fehlende Frauenstimmrecht – und mit anderen Bibelstellen wiederum dessen Forderung. Doch was ist die Intention des Textes? Der Text will hier nicht sagen, dass homosexuelle Handlungen verboten sind. In den ersten Kapiteln geht es der Bibel um die Schöpfung. Es geht nicht um Gesetze, sondern um Erklärungen der Welt. Jede Kultur hatte ihre Schöpfungsgeschichte oder ihren Schöpfungsmythos. So brauchte auch das Volk Israel und heute wir Christen eine Erklärung, wie die Welt entstanden ist. Dazu gehören auch Fragen der Herkunft, Erklärung von Leid und Tod, die Erschaffung der Gemeinschaft und als Teil davon die Ehe und die Fortpflanzung. Das Rezept für die Vermehrung der Menschen bestand in biblischem Verständnis aus dem Zusammenkommen eines Mannes und einer Frau – anders wäre eine Bevölkerung der Erde gar nicht möglich gewesen. Diese Geschichte kann und darf man jedoch nicht gebrauchen für ethische Fragen, die sich damals gar nicht stellten, etwa zu Polygamie, Heirat zwischen verschiedenen Kulturen, Heirat von Unmündigen, Sexualität in und ausserhalb der Ehe, Verteilung der Aufgaben in der Ehe, Heirat von Unfruchtbaren, Heirat von Intersexuellen und  auch zu Heirat von Personen des gleichen Geschlechts. Auf viele dieser Fragen gibt die Bibel an anderer Stelle Antworten oder Hinweise. Die Beantwortung dieser Fragen ist aber nicht die Intention des Schöpfungsberichtes. Dietrich Bonhoeffer geht hier sogar noch einen Schritt zurück und sagt, diese Geschichte handelt nicht von der Einsetzung der Ehe, sondern der menschlichen Gemeinschaft, der Kirche[2]. Es geht also nicht um die sexuellen, geschlechtlichen Ergänzungen. Der Mensch funktioniert auch allein sehr gut. Es geht um ein Gegenüber für eine Beziehung – damit der Mensch nicht mehr allein ist.

Oft wird in diesem Zusammenhang Jesus Christus genannt, der die Schöpfungsordnung zitiert[3]. Er antwortet aber in diesem Zusammenhang nicht auf die Frage der Homosexualität, sondern der Ehescheidung. So kann man seine Antwort auch nicht auf das Thema der Homosexualität anwenden, sondern nur auf die Frage der Ehescheidung. Genau so wenig kann man die Geschichte von Sodom und Gomorra gegen die Legitimität der Homosexualität verwenden. Die Verwerflichkeit der Taten in Sodom und Gomorra misst sich nicht an der Homosexualität, sondern an der Erniedrigung und dem Missbrauch von Fremden. Die Sünde Sodoms und Gomorras wird in der Bibel an verschiedenen anderen Stellen genannt. Homosexualität zählt nicht dazu.

Bei Paulus im Neuen Testament wiederum wird das vermeintliche Ziel der Ehe, die Bevölkerung der Erde, prominent relativiert und korrigiert. Paulus fordert in der bald erwarteten Wiederkunft von Jesus Christus dazu auf, nicht zu heiraten – seinem Vorbild gemäss. „Wenn sie aber nicht enthaltsam leben können, sollen sie heiraten. Denn es ist besser zu heiraten, als von Begehren verzehrt zu werden.“[4] Der Sinn und Zweck der Ehe ist nach Paulus also, überspitzt gesagt, nicht (mehr) die Bevölkerung der Erde, nicht gegenseitige Ergänzung und das „Eins werden“, sondern die geordnete Befriedigung der Begehren.

Die Ehe ist nach protestantischem Verständnis kein Sakrament. Die Ehe wird in der Schweiz nicht in der Kirche, sondern auf dem Standesamt geschlossen. In der Kirche wird im protestantischen[5] Verständnis die Ehe gesegnet, aber nicht geschlossen. Zudem ist die Ehe nicht ewig – im Gegenteil: Jesus Christus weist darauf hin, dass wir nach der Auferstehung weder heiraten werden noch verheiratet sind[6]. Die Ehe wird zwar als Gleichnis für die Beziehung zwischen Jesus Christus als Bräutigam und der Gemeinde als Braut gebraucht (wie der Rebstock und die Reben). Aus diesem Vergleich dürfen aber keine geschlechtlichen oder sexuellen Parallelen abgeleitet werden.

Die Ehe ist grundsätzlich kein Gebot. Wir finden aber in der Bibel Stellen, in welchen eine Ehe gesetzlich geboten wird. Es geht dabei um die Schwagerehe[7]. Diese wird in Dtn 25.5-10 unter Androhung sozialer Ächtung verordnet. In Gen 38 und in der Geschichte Ruths gibt es zwei Fallbeispiele und Jesus Christus wird in Mt 22, Mk 12 und Lk 20 darauf angesprochen. Er relativiert diese Gesetzesordnung nicht. Mit einem eindeutig ausformulierten Gesetzestext, zwei alttestamentlichen Anwendungen in Geschichten und drei Auseinandersetzungen in den Evangelien mit Jesus Christus, der diese Regelung nicht widerruft, ist das eigentlich eine klare Anweisung. Und doch würde es selbstverständlich jeder ethischen Grundlage entbehren, diese Anweisung auf die heutige Zeit zu übertragen.

In der Bibel gibt es keine Beispiele homosexueller Beziehungen. Das Fehlen guter Beispiele kann aber nicht als Argument gegen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare verwendet werden. Dazu anzuführen ist, dass in der Bibel die meisten Ehen nicht aus einem Verliebt-Sein oder aus romantischen Gefühlen entstanden. Adam und Eva hatten keine Wahl. Und so waren auch sehr viele weitere Ehen aus dem Alten Testament organisierte und auch politische Ehen oder den Umständen entsprechend gesetzt wegen mangelnder Partner aus demselben Kulturkreis oder derselben Gesellschaftsschicht. Romantische oder auch erotische Begegnungen gibt es weniger oder sie werden dann z.B. prominent im Hohelied gerade Personen zugeschrieben, die für ihr polygames Leben bekannt sind. Es wäre angesichts des damals üblichen Heiratsalters, den anderen Herausforderungen und kulturellen Gegebenheiten geradezu erstaunlich, würden wir eine solche Geschichte in der Bibel überhaupt finden.

Die Ehe ist ein Versprechen zweier Menschen, sich treu zu sein, und füreinander zu sorgen – in guten und in schlechten Zeiten. Diese Ehe wird heute im Gegensatz zu biblischen Zeiten eher weniger in Grossfamilien oder Sippen, sondern als Zweierbeziehung mit einer Phase mit Kindern im eigenen Haushalt geführt (wenn es denn Kinder gibt). Es geht darum, sie auf realen, festen und sicheren Grund zu stellen. Diese und die vorgenannten Überlegungen schliessen nicht von Vornherein aus, dass auch zwei Personen des gleichen Geschlechts eine solche Beziehung eingehen können. Bei der Frage der Ehe geht es um eine in Verantwortung vor Gott und den Menschen geführte treue Beziehung, die heute ja erfreulicherweise gerade auch von homosexuell empfindenden Personen gesucht wird. Zwei Personen unterstützen sich gegenseitig, nehmen gegenseitig Verantwortung wahr. Diese Beziehung ist nicht abhängig von der Laune, sondern hat durch ein verbindliches Versprechen in der Regel bis zum Tod einer der Personen Bestand. Der heterosexuellen Ehe wird dadurch in keiner Weise ihr Wert abgesprochen.

3. Homosexualität in der Bibel

In der Bibel gibt es keine Geschichten oder Gleichnisse, die sich mit dem Thema der homosexuellen Orientierung befassen. Es gibt auch keine Lehrabhandlungen darüber. Es gibt zwei einzelne Verse aus dem Gesetzestext im Levitikus im Alten Testament und drei Paulusstellen aus dem Neuen Testament, die traditionell mit dem Thema Homosexualität in Verbindung gebracht werden. Zwei der Paulusstellen sind einzelne Elemente aus einem Lästerkatalog. Eine davon wird in einer Argumentationsabfolge gebraucht. Wenn man diese fünf Bibelverse in der hebräischen und griechischen Sprache genauer anschaut, stellt man fest, dass sie gar nicht so deutlich sind, wie allgemein angenommen wird – und zum Teil erst in neuster Zeit entsprechend übersetzt werden. Es folgt darum eine kurze Betrachtung dieser Verse. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung wird entsprechende Fachliteratur empfohlen. Hier sollen die Grundzüge der Argumentation aufgezeigt werden.

3.1. Die zwei Verse aus Levitikus 18 und 20

Neuere Untersuchungen von Bruce Wells haben gezeigt, dass die Texte nicht so deutlich und klar sind, wie bisher angenommen[8].

Lev 18.22 Wort für Wort übersetzt:
Und mit / männlichem / nicht / du sollst liegen / Liegeplatz / Frau / Gräuel / es ist.
Lev 20.12 Wort für Wort übersetzt:
Und ein Mann / der / liegt/ mit / männlich / Liegeplatz / Frau / Gräuel / sie taten /…

Im Hebräischen Grundtext fehlt in beiden Versen das Wort „wie“. Zudem wird das Wort „Liegeplatz“ in den wenigsten Übersetzungen berücksichtigt. Die Übersetzung „Du sollst nicht bei einem Mann liegen, wie bei einer Frau.“ ist darum bereits eine Interpretation des Textes. Wells zeigt in seinem Essay jedoch noch weitere Mängel. Das wichtigste Argument ist hierbei das Wort „Liegeplatz“ (hebräisch: miškĕbê). Das Wort wird in der übrigen Bibel überall in weiblicher Pluralform gebraucht, ausser bei Lev 18 und 20 und in Gen 49.4, wo steht, dass Ruben mit der Frau seines Vaters sexuellen Verkehr hat. Bei diesen drei Stellen ist es jeweils die männliche Pluralform. Hat ein Wort ein anderes Geschlecht, hat es aber auch eine andere Bedeutung. Ausserbiblisch wird das Wort auch in dieser Form verwendet. Es heisst dort nicht „Liegeplatz“, sondern umschreibt die sexuelle Zugehörigkeit. Die Frau ist demnach die miškĕbê ihres Mannes. Und der Mann wiederum ist die miškĕbê seiner Frau.[9] So übersetzt hiesse es:

Lev 18.22: Mit Männlichem sollst du nicht liegen, der die miškĕbê einer Frau ist, es ist ...
Oder: Lev 18.22: Du sollst nicht bei einem Mann einer anderen Frau liegen, es ist …
Lev 20.12: Und ein Mann, der liegt mit Männlichem, der die miškĕbê einer Frau ist, …
Oder: Lev 20.12: Wenn ein Mann bei einem Mann einer anderen Frau liegt, haben sie …

Wenn man diese Verse so übersetzt, kann man den Vers aus Gen 49,4 von Ruben nach bisheriger Übersetzung belassen. Wenn man aber Lev 18 und 20 wie bisher übersetzt, müsste man das Wort entsprechend auch in Gen 49 gleich übersetzen. Dann hätte Ruben nicht mit der Frau seines Vaters (der miškĕbê seines Vaters) sexuellen Verkehr gehabt, sondern mit seinem Vater selbst. Und diese Übersetzung kann nicht stimmen. Es geht in Levitikus 18 und 20 folglich nicht um ein Verbot homosexueller Handlungen, sondern um ein Verbot sexueller Handlungen mit Männern, die bereits an eine Frau vergeben sind, also um Ehebruch. Im Textzusammenhang ergibt das Sinn. Zuerst werden alle Verwandtschaftsverhältnisse in Bezug auf Frauen aufgeführt, mit denen sexueller Verkehr verboten ist. Und mit den beiden zitierten Sätzen wird das Verbot schliesslich auf alle Männer ausgeweitet, die in einem entsprechenden Verwandtschaftsverhältnis stehen oder bereits vergeben sind. Hätte der Autor den sexuellen Verkehr mit allen Männern verbieten wollen, hätte er das entsprechende Vokabular im darauffolgenden Verbot sexueller Handlungen mit Tieren gehabt.

3.2. Die Sündenregister aus 1. Korinther 6.9 und 1. Timotheus 1.9f

In den beiden Paulusbriefen wird zweimal das Wort arsenokoitai und einmal das Wort malakoi im Sündenregister erwähnt. Luther übersetzte diese Worte mit „Knabenschändern“ und „Lustknaben“. Erst in neueren Übersetzungen werden die Worte zusammengefasst mit „Homosexuelle“ übersetzt. Ein Wort für Homosexualität gab es zurzeit von Paulus jedoch nicht. Paulus hat sich eines Wortes bedient, das in der griechischen Antike für die Päderastie, einer damals verbreiteten Art homoerotischer Beziehungen gebraucht wurde. Die Päderastie war eine institutionalisierte Form von sexuellen Beziehungen zwischen einem älteren Mann und einem Jüngling. Gegen diese Beziehungsform hat sich Paulus ausgesprochen. Darum sind auch zwei Begriffe genannt: der Begriff für den Mann (Luther: Knabenschänder) und für den Jüngling (Luther: Lustknaben). Es geht hier demnach nicht um Homosexualität, sondern um eine spezifische Form von Sexualität wie es diese auch in der Heterosexualität gibt – und die in beiden Fällen nicht zu billigen ist.

3.3. Römer 1.27-28

Das ist die einzige Stelle, die sexuelle Handlungen zwischen mündigen Männern oder mündigen Frauen beschreibt. Wichtig ist hier aber, die Argumentationsfolge anzuschauen. Paulus beschreibt den Abfall der Menschen von Gott: Sie haben sich von Gott abgewendet und Götzen angebetet. Das ist die Sünde. „DARUM hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften…“ und dann wird „schändliche (homosexuelle) Leidenschaft“ und „in Begierde (homosexuell) entbrannt“ angefügt. Das ist demnach nicht die Sünde, sondern die Strafe Gottes. Wenn diese Paulusstelle Bezug nimmt auf heute, müssten alle Menschen, die homosexuell empfinden, diese Sünde des Götzendienstes getan haben. Dass dies nicht der Realität entspricht, zeigen viele Gespräche mit frommen und gottesfürchtigen Menschen (Jugendlichen wie Erwachsenen), die trotz ihres Glaubens und ohne „Götzendienst“ und ohne sexuelle Praktiken homosexuelle Gefühle haben. Paulus muss hier demnach andere „schändliche und in Begierde entbrannte“ homosexuelle Veranlagungen oder Verhaltensweisen vor Augen gehabt haben als wir heute. Vielleicht dachte er sogar an die Geschichte von Sodom und Gomorra – die nichts mit homosexuellen Beziehungen, wohl aber mit sexuellem Missbrauch von Männern zu tun hatte. Weitere Fachliteratur mit zusätzlichen Argumenten[10] ist auch hier empfohlen.

4. Ehe für alle in der Bibel?

Es gibt keine eindeutigen Gesetzestexte, die Homosexualität verbieten. Es gibt keine Geschichten oder Gleichnisse, die Homosexualität, wie wir sie heute kennen, verurteilen. Jesus äussert sich gar nicht zu diesem Thema. Zur Schwagerehe hingegen haben wir bedeutend mehr Belegstellen – und diese wird heute nicht mehr gefordert. Wer proklamiert, das sogenannte traditionelle Familienmodell sei das einzig biblisch legitime Modell, müsste fairerweise auch zugestehen, dass genau dieses Kleinfamilienmodell nicht dem Modell der Sippe in der Bibel entspricht, sondern selbst ein modernes Konstrukt ist. Die Bibel wird aber zur Hilfe in der Argumentation für das heutige gängige Familienmodell herangezogen. Dieses Vorgehen ist gefährlich und erlaubt viel Manipulation mit biblischen Texten.

Homosexuelle Partnerschaften, wie wir sie heute kennen, gab es zu biblischen Zeiten kulturell bedingt kaum und sie waren kein grosses Thema. Darum kann die Bibel zu dieser Frage auch nicht direkt konsultiert werden.  Stattdessen müssen wir ethische Richtlinien aus der Bibel ableiten, die uns in dieser Frage weiterhelfen. Paulus gibt in Gal 5.14 eine Anleitung bei Unklarheiten im Gesetz: "Alle Gesetze werden in dem einen erfüllt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" Mord, Diebstahl, falsches Zeugnis, Ehebruch, Pädophilie, ja sogar Polygamie und vieles mehr lassen sich damit verurteilen. Das Verbot einer treuen, monogamen in der Verantwortung vor Gott geführten homosexuellen Beziehung kann man aber mit diesem Gebot der Liebe nicht begründen. Selbst wenn all die ausgeführten Argumente bezüglich der wenigen Bibelstellen falsch wären, würde dieses letzte Argument die ganze biblische Betrachtung relativieren. Zum Glück wird das Liebesgebot heute bei der Schwagerehe, der Eheschliessung allgemein, der Sklaverei, bei Speisevorschriften[11] und vielem mehr gegenüber diesen Gesetzen priorisiert.

4.1. Familie und Kinderfrage

Die Frage nach der Adoption und der Samenspende müssen losgelöst von der Bibel betrachtet werden. Es gibt in der Bibel mit der Schwagerehe eine Institution, die eine Samenspende in altertümlicher Weise fordert. Der Bruder eines Mannes, der ohne Kinder verstorben ist, muss mit der verwitweten Frau einen Nachkommen zeugen, der aber nicht als sein Kind, sondern als das seines verstorbenen Bruders gilt und dessen Erbe antritt. In der Bibel wird kein Ideal für die Kinder skizziert, da in der damaligen Sippe die Rollen von Vater, Mutter und Dienerinnen und Dienern ganz anders verteilt waren als heute. Aus der Bibel ein Ideal zu Adoption und Samenspende abzuleiten, ist daher wenig sinnvoll. Das Wohl der Kinder muss in der heutigen Zeit untersucht werden. Hierzu gibt es eine Metastudie, die möglichst viele Studien von Kindern bei homosexuellen Paaren und heterosexuellen Paaren verglich. Das Resultat wurde am Fokustag der EVP zu diesem Thema präsentiert: Kinder mit homosexuellen Elternteilen wachsen mindestens ebenso gut auf, wie Kinder mit heterosexuellen Elternteilen. Biblisch kann man nicht dafür oder dagegen argumentieren, welche Geschlechter die erziehenden Eltern haben sollen.

5. Schlussfolgerung

Zur Kinderfrage können wir die Bibel nicht konsultieren. Die Bibel gibt keine Regeln vor, von wem ein Kind erzogen werden soll. Die Bibel geht ohnehin von einem anderen Familienmodell aus, als wir das heute kennen. Die Samenspende ist in der Bibel in der Schwagerehe ein Thema und wird dort nicht verurteilt, sondern gefordert. Daraus Schlüsse für heutige politische Fragen zu ziehen, ist gefährlich. Ein ethischer Diskurs dazu muss darum jenseits rein biblischer Begründungen geschehen.

Ob und wie homosexuelle Partnerschaften gesetzlich geregelt sein sollen, lässt sich biblisch weder verneinen noch begründen. Es ist keine rein biblische Frage, sondern eine weitergehende ethische Frage, welche Bezeichnung und welche Rechte eine solche gesetzlich geregelte Partnerschaft oder Ehe haben soll. Aus christlich-ethischer Sicht ist es unbedingt zu unterstützen, Beziehungen zwischen Liebenden so weit möglich gesetzlich und gesellschaftlich abzusichern und sie so zu festigen – egal ob es heterosexuelle oder homosexuelle Paare sind. Unsere Gesellschaft kann nur davon profitieren, wenn gegenseitig verbindliche Verantwortung übernommen und wahrgenommen wird. In gesellschaftlichen Fragen ausserhalb der Kirche müssen Personen der verschiedensten Glaubensrichtungen gut begründen können, warum sie Glaubensnormen auch Personen aufzwingen wollen, die ihren Glauben nicht teilen. Solange niemand zu Schaden kommt, wäre ein solcher Zwang aus christlicher Überzeugung nicht gerechtfertigt. Wenn homosexuell empfindende Personen einander heiraten dürften, würde sich für niemanden in einer traditionellen heterosexuellen Ehe etwas ändern. Für viele homosexuelle Paare hingegen wäre sehr viel gewonnen.

 
Renato Pfeffer, Master of Theology UZH,
EVP Richterswil, Februar 2020

[1] Gen 2.24.

[2] Dietrich Bonhoeffer in Schöpfung und Fall, Chr. Kaiser Verlag 2007, S. 89.

[3] Mt 19.3-12.

[4] 1. Kor 7.9.

[5] Die römisch-katholische Kirche hat ein sakramentales Verständnis der Ehe. Entsprechend ist für sie auch nicht die Hochzeit auf dem Standesamt «rechtlich», sondern die von einem Priester gestiftete Ehe in der Kirche.

[6] Mt 22.30.

[7] Wenn ein Mann stirbt, bevor er mit seiner Frau ein erstes Kind gezeugt hat, ist es die Pflicht des Bruders oder des nächsten Verwandten des verstorbenen Mannes, die Witwe zu heiraten und ein Kind mir ihr zu zeugen, das die Erbschaft des verstorbenen Mannes antreten wird.

[8] Bruce Wells in «The Grammar and Meaning of the Leviticus Texts of Same-Sex Relations Reconsidered» 2014.

[9] Ausserbiblisch wird der Begriff der miškĕbê auch auf Kinder angewendet. Die Tochter oder der Sohn ist unter der Aufsicht des Vaters, also die miškĕbê des Vaters, bis er sie in eine Ehe entlässt.

[10] Der Römerbrief weist einige Parallelen auf zu 1. Kor 11.13ff. "Natürlich" und "schändlich" aus Römer entspricht genau den griechischen Worten, die im 1. Korintherbrief für lange Haare bei Männern und Kopftüchern bei Frauen gebraucht werden und haben demnach nichts mit Natur, sondern eher mit Kultur zu tun.

[11] Auch für Christen gäbe es gemäss Apostelkonzil Speisevorschriften.

 
 

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